Polioviren im Abwasser mehrerer deutscher Großstädte nachgewiesen, Gesundheitsamt rät zur Impfung
Interview mit dem Leiter des Gesundheitsamtes Rosenheim, Herrn Dr. Wolfgang Hierl, zu den aktuellen Berichten über Nachweise von Polioviren in Abwasserproben:
Das Robert Koch-Institut (RKI) berichtet aktuell, dass in Abwasserproben aus mehreren Städten in Deutschland Polioviren nachgewiesen wurden.
Dr. Hierl: Das ist korrekt: In den vergangenen Wochen wurden an mehreren Standorten in Deutschland, darunter auch in München, Polioviren des Typs 2 (sogenannte cVDPV2) in Abwasserproben von Kläranlagen nachgewiesen. Die nachgewiesenen Polioviren stammen von einer Linie ab, welche sich ursprünglich aus dem Polio-Schluckimpfstoff (OPV) entwickelt hat.
Diese Impfviren zirkulieren in Regionen mit insgesamt geringem Impfschutz, so zum Beispiel in verschiedenen Teilen Afrikas oder in Indonesien. Sie hatten so die Möglichkeit, sich genetisch zu verändern und es entstanden dadurch wieder krankheitsauslösende Viren.
Der in Europa seit vielen Jahren empfohlene Impfstoff gegen Polio ist dagegen ein sogenannter Totimpfstoff (IPV), der keine lebenden Viren enthält. Er schützt mit einer hohen Wirksamkeit auch vor einer Erkrankung durch diese Schluckimpfstoff-abgeleiteten Polioviren.
Die Europäische Region gilt seit 2002 als Polio-frei. Um das Neuauftreten von Poliomyelitis-Fällen in Deutschland zu verhindern, ist es notwendig, dass möglichst viele Personen rechtzeitig und vollständig gegen Polio geimpft sind.
Wie bedrohlich ist diese Meldung einzuschätzen?
Dr. Hierl: Es gibt keinen Grund für übertriebene Angst. Wir haben in Deutschland ein hervorragendes Gesundheitssystem und einen hohen Hygienestandard. Das Risiko von Ausbrüchen mit Kinderlähmung ist daher als gering einzuschätzen.
Allerdings können sich ungeimpfte oder nicht vollständig gegen Kinderlähmung geimpfte Personen bei infizierten Menschen anstecken und an Poliomyelitis erkranken.
Die Ständige Impfkommission (STIKO) nimmt dies zum Anlass, auf ihre bestehenden Impfempfehlungen zum Schutz vor Poliomyelitis hinzuweisen. Die STIKO empfiehlt in der aktuellen Situation, den Impfstatus von Kindern als besonders vulnerable Gruppe für Poliomyelitis zu überprüfen und versäumte Impfungen schnellstmöglich nachzuholen.
Gibt es auch positive Nachweise des Polio-Erregers in der Region? Wie oft wird das Abwasser in der Region auf den Polio-Erreger getestet?
Abwasseruntersuchungen dienen als Frühwarnsystem, mit dem man sehr früh Hinweise darauf bekommt, ob in der Bevölkerung Menschen mit Polioviren infiziert sind und diese ausscheiden. Seit Mai 2021 wird im Rahmen des Forschungsprojekts „PIA – Polioviren im Abwasser“ das Abwasser an sieben Standorten (München, Bonn, Köln, Hamburg, Dresden, Düsseldorf und Mainz) in Deutschland auf Polioviren untersucht. Der Polio-Erreger wurde in allen sieben Städten nachgewiesen. An PIA sind das Nationale Referenzzentrum für Polioviren und Enteroviren, das Umweltbundesamt und weitere Kooperationspartner beteiligt.
Der Prozess ist zeit- und arbeitsaufwändig. Die Region Rosenheim ist nicht in das Projekt einbezogen, daher gibt es hier keine Abwasseruntersuchungen auf Polioviren.
Wie ist die Impfquote in unsere Region?
Dr. Hierl: In der Region Rosenheim werden unsere Kinder zu spät und zu oft nicht vollständig gegen Kinderlähmung, aber auch gegen die anderen, von der STIKO empfohlenen Schutzimpfungen, geimpft.
Der Landkreis Rosenheim gehört zu den 10 Regionen in Bayern mit den niedrigsten Impfquoten bei Kindern gegen Kinderlähmung. Im Rahmen einer aktuellen Auswertung des RKI von Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KV-Impfsurveillance) sind lediglich 66,5 Prozent der Kinder im Alter von 24 Monaten vollständig gegen Polio geimpft. Im bayerischen Durchschnitt sind es 10 Prozentpunkte mehr (76,5 Prozent). Zum Zeitpunkt der Schuleingangsuntersuchung waren in Stadt und Landkreis Rosenheim im Schuljahr 2022/23 nur 89,3 Prozent vollständig geimpft (Bayern: 93,8 Prozent). Auch dieser Wert liegt unter der Durchimpfungsquote von 95 Prozent, die für einen Schutz vor Ausbreitung einer Infektion in der Bevölkerung notwendig ist (sogenannte Herdenimmunität).
Was empfiehlt das Gesundheitsamt?
Dr. Hierl: Ich appelliere an alle Eltern, ihre Kinder zeitgerecht und vollständig gemäß den Empfehlungen impfen zu lassen. Nehmen Sie die aktuellen Meldungen über die Nachweise von Polioviren im Abwasser zum Anlass, den Impfstatus bei Ihren Kindern und bei Ihnen selbst zu überprüfen. Gerne berät Sie Ihre Haus- und Kinderarztpraxis oder das Team des Gesundheitsamtes Rosenheim.
Wie sieht ein vollständiger Impfschutz aus?
Dr. Hierl: Der vollständige Impfschutz gegen Kinderlähmung besteht aus einer Grundimmunisierung mit mindestens drei Impfungen. Die Impfung gegen Kinderlähmung ist in den 6-fach Kombinationsimpfstoffen enthalten. Sie werden bei Säuglingen im Alter von zwei, vier und 11 Monaten empfohlen (sogenanntes 2+1-Schema). Wurden diese Impfzeitpunkte versäumt, sollten die Impfungen zeitnah nachgeholt werden, wobei ein Mindestabstand von sechs Monaten zwischen vorletzter und letzter Impfung der Grundimmunisierung für einen längerfristigen Impfschutz eingehalten werden soll. Im Alter von neun bis 16 Jahren sollte dann eine Auffrischimpfung mit dem altersentsprechenden Kombinationsimpfstoff für einen langanhaltenden Impfschutz erfolgen.
Die STIKO empfiehlt auch allen Erwachsenen mit fehlender oder unvollständiger Grundimmunisierung oder fehlender Auffrischimpfung, diese nachzuholen.
Welche Folgen hätte eine Ansteckung mit den Polio-Viren? Wie kann man sich anstecken und wie dagegen schützen? Mit welchen Symptomen muss man rechnen?
Kinderlähmung ist eine Erkrankung, die durch Viren verursacht wird. Die Erreger werden mit dem Stuhl ausgeschieden und vorwiegend durch Schmierinfektion (Stuhl-Hand-Mund) übertragen. Schlechte hygienische Verhältnisse begünstigen die Ausbreitung von Poliovirus-Infektionen.
Die Zeit zwischen Infektion und Erkrankung beträgt durchschnittlich etwa drei bis sechs Tage, kann sich aber auch bis zu 35 Tage erstrecken. Die Mehrzahl (rund 95 Prozent) der Infizierten merkt nicht, dass sie sich angesteckt hat. Etwa fünf Prozent haben Fieber, Magen-Darm-Beschwerden, Hals- und Kopfschmerzen. Bei jedem 100. bis 1.000. Infizierten kommt es zu bleibenden, schlaffen Lähmungen der Arm- oder Beinmuskulatur, schlimmstenfalls auch der Sprech-, Schluck- oder Atemmuskulatur.
Zu den Komplikationen der Polio zählen bleibende Lähmungen und dadurch auch Muskelschwund, vermindertes Knochenwachstum sowie Gelenkzerstörung. Noch Jahrzehnte nach der Infektion kann es zu einer Zunahme der Lähmungen kommen (Post-Polio-Syndrom).
Weder die Erkrankung selbst noch das Post-Polio-Syndrom kann behandelt werden, man kann nur die Symptome lindern.
Sowohl Krankheitsverdacht, die Erkrankung sowie der Tod an Poliomyelitis als auch Labornachweise der Polioviren müssen dem Gesundheitsamt gemeldet werden.
Hat es in der Region in letzter Zeit Ansteckungen mit dem Polio-Erreger gegeben?
Die letzte in Deutschland erworbene Erkrankung an Poliomyelitis durch Wildviren wurde 1990 erfasst. Die letzten beiden importierten Fälle (aus Ägypten bzw. Indien) wurden 1992 registriert.
In Zusammenhang mit dem Polio-Lebendimpfstoff (OPV) kam es jedoch in Deutschland jährlich zu ein bis zwei Vakzine-assoziierten paralytischen Poliomyelitis-Erkrankungen (VAPP), die sich klinisch wie eine Poliomyelitis-Erkrankung durch Wildviren darstellen können. Daher hob die Ständige Impfkommission (STIKO) 1998 die Empfehlung des Einsatzes von OPV auf und empfahl stattdessen den generellen Einsatz von inaktivierter Polio-Vakzine (IPV).
Mehr Informationen zum Thema gibt es auch im Internet unter:
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/ImpfungenAZ/Polio/Polio.html
https://www.impfen-info.de/impfempfehlungen/fuer-kinder-0-12-jahre/polio-kinderlaehmung/